(In seinem 2022 im HERDER Verlag veröffentlichten Buch „Knockin´on Jimmy´s Door“widmet sich Dada Peng auch dem Suizid und der Frage, wie wir dieses Thema gesellschaftlich enttabuisieren können. Dada Peng nennt in diesem Buch den Tod „Jimmy“ um ihm auf Augenhöhe und angstfrei begegnen zu können.)
Dass die Eltern sterben, das ist für viele wahrscheinlich eine Form von Jimmy, die wir am ehesten akzeptieren und begreifen können. Generell herrscht in unseren Köpfen ja noch die allgemeingültige Denkweise, dass es der natürliche Lauf der Dinge sei, dass wir quasi generationsweise sterben. Also zunächst die Urgroßeltern, dann die Großeltern, dann die Eltern usw. Das ist aber auch wieder ein menschengemachter Irrtum. Das ist die Reihenfolge, die für uns die logischste wäre. Es ist aber mitnichten eine natürliche. In der Natur ist es so, dass auch Jungtiere in der freien Wildbahn gefressen werden und vor ihren Eltern sterben. Blumen werden auch wahllos gepflückt, Käfer ohne Rücksichtnahme aufs Alter zertreten. In der Natur gibt es diese Hierarchie, dieses Recht auf ein Sterben im Alter nicht. Genauso ist es auch bei uns Menschen. Wenn Eltern sterben, dann ist dies für jeden von uns, ganz unabhängig, wie nah wir unseren Eltern standen oder nicht, eine Zäsur. Es ist ein Lebensereignis, das unser zukünftiges Leben prägen wird. Für viele von uns sind die Eltern wie ein Backup. Sie sind ein sicherer Hafen, und wenn alles schief gehen sollte im Leben, dann können wir immer wieder in diesen Hafen zurück, etwas Warmes essen, schlafen und uns wieder sammeln. Manchmal sind es einfach nur 100 Euro, die wir uns pumpen, manchmal ist es der Arschtritt, den wir brauchen, und manchmal einfach nur eine Umarmung.
Das Wichtigste für viele von uns an unseren Eltern ist: Sie sind da.
Wenn Eltern früh sterben, dann empfinden wir das häufig als ungerecht. Denn uns wird, anders wie bei anderen, dieser sichere Hafen genommen, und wir haben noch so viel eigenes Leben vor uns. Ein Bekannter von mir ist Mitte fünfzig, beide Elternteile leben noch, sie selbst sind Mitte siebzig, und wenn ich sie gemeinsam sehe, dann ist mein Bekannter auch mit Mitte fünfzig immer Kind, sobald seine Eltern dabei sind. Seine Eltern empfinden immer noch Fürsorge ihm gegenüber, obwohl er ein erfolgreicher Künstler und selbst Familienvater ist. Er kann sich auch gar nicht vorstellen, dass seine Eltern irgendwann nicht mehr da sein werden. Das gesamte Leben hat er im Bewusstsein „da ist jemand, der auf mich aufpasst“ gelebt. Und doch wird auch er irgendwann einmal diese Sicherheit nicht mehr haben. So wie wir alle.
Aber ist es nicht auch ungerecht, dass manche von uns diese Sicherheit bereits früh verlieren und sich dann alleine durchs Leben kämpfen müssen? Wäre es nicht viel besser, schöner und gerechter, wenn wir alle unsere Eltern bis ins hohe Alter bei und mit uns hätten? Ich glaube nein. Zum einen, ich sagte es bereits eingangs, gibt es diese Form von einem Anspruch auf ein langes Leben nicht. Und dann müssen wir differenzieren: Unser Verhältnis zu unseren Eltern ist vielschichtig. Nicht für jeden von uns wäre es ein Segen, wenn die Eltern uns ein Leben lang begleiten würden. Für viele ist der Verlust der Eltern in jungen Jahren auch eine gute Schule, um Schwierigkeiten und Hindernisse der Zukunft bewältigen zu können. Der Tod der Eltern ist ähnlich wie die Geburt von Geschwistern. Da gibt es nicht den perfekten Zeitpunkt. Es gibt aber auch keinen falschen. Diese Ereignisse prägen unser Leben einfach auf verschiedene Arten und Weisen, je nachdem, wann sie stattfinden.
Auch ein Leben lang mit der Trauer um die verstorbene Mutter, dem verstorbenen Vater, leben zu müssen, leben zu dürfen, kann eine Bereicherung für das eigene Leben darstellen.
Am Rande von Dreharbeiten unterhielt ich mich erst letztens mit einer Mitte fünfzigjährigen Producerin, die schon sehr früh, im Teenageralter, ihre Mutter verloren hatte. Sie sagte: „Ich trauere auch heute noch. Ich heule sogar manchmal heute noch. Und doch weiß ich, dass dieser Verlust mir dabei geholfen hat, meinen Weg zu gehen. Da kam nämlich einiges auf mich zu, und durch den Verlust meiner Mutter war ich gewappnet. Aber vermissen tu ich sie trotzdem.“ In einem anderen Gespräch mit einer sehr jungen Frau, sie war Anfang zwanzig und hatte vor drei Jahren ihre Mutter von einem Tag auf den anderen verloren, erzählte sie mir, wie ihre ganzen Zukunftspläne durch dieses Ereignis ins Wanken geraten sind. Sie stellte ihr Studium, ihre Berufswahl, ihre gesamte Zukunft in Frage und hatte auf einmal das Bedürfnis, Jimmy viel mehr Raum in ihrem Leben zu geben und wahrscheinlich sich auch beruflich Jimmy sowie der Begleitung von Sterbenden und Trauernden zuzuwenden. Ich sagte ihr: „Siehst du, und genau das ist vielleicht etwas Positives, dass der frühe Tod deiner Mutter mit sich bringt. Denn die Fragen, die du dir jetzt stellst, die würdest du dir auch in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren stellen. Du würdest wahrscheinlich auch dann dein Leben infrage stellen und es verändern und neu justieren wollen. Dann wärst du aber selbst wesentlich älter. Heute liegt noch dein ganzes Leben vor dir, und du kannst diese Erfahrung des Sterbens deiner Mutter mit in deine Zukunftsplanung einbeziehen. Und so wird deine Mutter ganz automatisch ein Teil deines neuen Lebens, dass es ohne ihr Sterben ja so niemals gegeben hätte.“
Auch für mich war der frühe Verlust meiner Eltern eine Richtungsänderung im Leben. Mein Vater starb, als ich 25 war. Er war fünfzig. Ich bin da einfach so hineingeraten. Ich hatte mich zuvor mit Jimmy nicht differenziert auseinandergesetzt. Die Frage nach dem Ursprung unserer Existenz hingegen, das ist, seitdem ich denken kann, eine Frage, die sich mir immer schon stellte. Allerdings hatte ich, bis ich Jimmy kennenlernte, immer versucht, meine existenziellen Lebensfragen durch Gott und mithilfe von Religionen zu erklären und zu verstehen. Die für mich wirklich wichtigen Antworten fand ich dann dadurch, dass ich einmal die gesamte Welt bereiste und Jimmy überall mit hinnahm. Als mein Vater an Krebs erkrankte, war ich gerade in Miami, und es stellte sich mir die Frage, ob ich direkt wieder nach Deutschland zurückreisen sollte. „Krebs“, dachte ich, „ja, haben viele. Das muss nichts heißen.“
Und in der Tat blieb ich zunächst in den USA, um die OP meines Vaters abzuwarten, durch die wir mehr über seinen Gesundheitszustand erfahren sollten. Ich ging davon aus, dass ein Anruf kommen würde: „Alles ist gut. Es wird schon wieder.“ Und doch fiel mir genau zu dieser Zeit in Miami das Buch One Day My Soul Just Opened Up von Iyanla Vanzant in die Hände. Ich erwähnte sie bereits. Besser gesagt, das Buch fand mich. Ich lese nicht sonderlich viel. Ich wurde kürzlich wirklich gefragt, welchen Roman ich zuletzt gelesen habe, und ich konnte nur Pizza-Bande als Antwort geben. Das ist tatsächlich das letzte fiktionale Buch, das ich gelesen habe. Da war ich etwa vierzehn, glaube ich. Aber jenes Buch von Iyanla wurde in der Sterbensphase meines Vaters zu meiner Bibel. Am Ende jedes Kapitels gibt es freie Seiten, auf die die eigenen Gedanken geschrieben werden können. Ich schrieb alles voll. Irgendwann reichten die freien Seiten nicht mehr aus, und ich begann in ein kleines Extrabuch zu schreiben. Gedanken, Gedichte, Songtexte.
Im Großen und Ganzen entstand daraus mein erstes Buch Vom Leben und Sterben. Als dann in Miami der zu erwartende Anruf nämlich kam, hieß es: „Gar nichts ist gut, die Ärzte geben ihm maximal noch sechs Monate.“ Sechs Monate Leben. Was machen wir mit sechs Monaten Leben? Vor allem, wenn wir überhaupt nicht auf Jimmy vorbereitet sind? Meine Familie und ich waren es nämlich wirklich nicht. Ich flog zurück nach Deutschland und war auf einmal inmitten meiner ersten Sterbebegleitung. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Das ist so ein daher gesagter Satz. Ein Mancher mag sagen: eine Plattitüde. Wenn wir dann aber einen Menschen vor uns haben und diesen einen Moment miterleben, in dem die Hoffnung stirbt, dann wird dieser Satz ganz real. Ich durfte das bereits mehrfach miterleben. Bei meinen beiden Eltern. Meine Mutter starb 2011 – ebenfalls an Krebs. Beide starben in meinem alten Kinderzimmer zu Hause.
Ich wuchs schon früh aus meinem Kindsein heraus. Diese Eltern-Kind-Rolle, die ich eingangs beschrieb, die des sicheren Hafens, habe ich in dieser Form nicht erfahren. Ich fühlte mich eigentlich immer für alles verantwortlich und war deshalb auch während der Sterbephase meines Vaters wie ein Projektleiter. Ich organisierte die Besuche seiner Geschwister, informierte alle Freunde über den Gesundheitszustand und verbrachte sehr viel Zeit am Bett meines Vaters. Schon damals fand ich es spannend, jemandem während des Sterbens zuzusehen und zu wissen: Das werde auch ich einmal erleben. Es waren drei sehr intensive Monate. Ich arbeitete damals beim Fernsehen als Moderator, und glücklicherweise konnten wir die Produktion so verlegen, dass ich die gesamte Sterbensphase zu Hause sein konnte. Erst zwei Tage, bevor mein Vater starb, musste ich für zwei Drehtage kurz zurück nach Stuttgart. Als ich mich von meinem Vater verabschiedete, saß er aufrecht und recht munter im Bett und aß einen Joghurt. Ich dachte, ich würde ihn noch mal wiedersehen. Aber er starb wenige Stunden, bevor ich zwei Tage später wieder zurückkehrte. Auch das sehe ich im Nachhinein als Geschenk an.
Dieses Ganze erleben, die folgende Trauer und auch die rückblickende Auseinandersetzung mit der Beziehung zu meinem Vater, die sollten mir noch einiges abverlangen. In dem Moment, in dem er starb, auch anwesend gewesen zu sein, das hätte der eine Punkt zu viel sein können, um damit klarzukommen. Ich sehe zurückschauend eine perfekte Komposition, muss ich sagen, als hätte Jimmy diesen Sterbeprozess wie ein Musikstück komponiert. Sodass jeder seinen perfekten Platz darin findet. Dieses Empfinden sollte ich noch bei vielen weiteren Sterbeprozessen haben können. Der frühe Tod meines Vaters, das intensive Kennenlernen Jimmys war und ist für mich bis heute eine Bereicherung meines Lebens. Ein paar Monate nachdem mein Vater gestorben war, brach ich zu einem sechswöchigen Rucksacktour durch Thailand auf. Allein. Und ich war vorher noch nicht einmal allein im Kino gewesen.
Es wurde eine Reise meines Lebens.
Viele weitere sollten folgen. Reisen wurde meine Religion. Jimmy wurde mein Travel-Buddy. So sehr wir eventuell auch den sicheren Hafen vermissen, wenn unsere Eltern sterben, so sehr werden wir aber auch in das wahre Leben geschmissen. Die Nabelschnur wird unwiederbringlich gecuttet. Es ist ein Gefühl, das ich nur als das Schubsen eines jungen Vogels aus dem Netz beschreiben kann. Er weiß nicht, was ihn erwartet, er weiß noch nicht einmal, dass er des Fliegens fähig ist. Und doch stürzt er sich voller Vertrauen in die Luft, und beide, seine Mutter und er, vertrauen darauf, dass alles gut gehen wird, sie vertrauen darauf, dass er fliegen kann. Dass er allein fliegen kann.
Ich weiß nicht, wie es in euren Familien aussieht, aber im Alltag meiner Familie damals, zum einen im Zusammenleben meiner Eltern, aber auch später im Zusammenleben meiner Mutter mit ihrem neuen Lebensgefährten, da gab es wirklich viele Bereiche, die mir persönlich nicht entsprachen. Und ich kenne viele Freunde von mir, denen es ähnlich geht. Welches Weihnachtsfest ist wirklich so, wie wir es aus dem TV oder aus Disney-Kinofilmen kennen? Ich fand unsere Familienfeste immer amüsant, wenn ich sie als Zuschauer, nicht als Beteiligter hätte betrachten können. Aber ein Teil davon zu sein, meine Lebenszeit so zu verbringen, das war schon nicht immer einfach. Als meine Mutter starb, da sagte ich spontan: „Ab heute kommt bei mir nie wieder die Ketchupflasche auf den Tisch.“ Aus meiner Sicht war es immer störend, wenn eine Festtafel gedeckt war und dann die Ketchupflasche mitten in das Ganze platziert wurde. Es gab rückblickend tausend Dinge, die ich mitmachte, an denen ich aber keine Freude hatte. Das alles nicht mehr erleben zu müssen, empfand ich nach dem Tode meiner Mutter wiederum als Geschenk. Ich konnte machen, was ich wollte. Seitdem bin ich der, der ich bin, ohne mich erklären zu müssen.
Ganz ehrlich: Ich fühlte mich nach ihrem Sterben frei. So empfinde ich das auch heute noch. Ich habe mir nie gewünscht, dass meine Eltern sterben. Ich hätte alles dafür getan, dass sie gesund werden. Aber vermisse ich sie? Nein. Nicht mehr, als ich sie zu ihren Lebzeiten vermisst habe. Ich vermisse diesen sicheren Hafen, den andere haben und den ich nie hatte. Den hätten sie mir aber auch nicht schenken können, egal, wie lange sie gelebt hätten. Und das ist auch nicht schlimm. Denn diese Erfahrung ist einfach nur ein Teil von mir. Und so sind auch meine Eltern noch heute Teil meines Lebens. Durch das, was ihnen an mir gelungen ist, und durch das, was ihnen nicht gelang.
Schulden wir unseren alten Eltern, dass wir unser eigenes Leben zurückstellen und im Alter unsere Aufmerksamkeit ihrem Wohlbefinden widmen? In welchem Maße ist das machbar? Und sind wir schlechte Kinder, wenn wir auf die Pflege unserer Eltern einfach keine Lust haben?
Ich hätte jetzt in meinem Alltag keine Lust dazu. Ich kann das sagen, da ich nicht in diese Situation kommen werde.
Und doch wird sich der Großteil von uns natürlich dafür entscheiden, den Sterbeprozess der Eltern und auch die Zeit des Altwerdens zu begleiten. Es ist für viele von uns ja jener Weg, der auch vor uns liegt. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr Singlehaushalte, immer mehr alternative Familienformen und auch immer mehr Menschen, die keine Kinder bekommen. Unsere Gesellschaft hat sich hier bereits verändert. Das alles ist bereits geschehen. Was wir uns noch nicht trauen, ist dies auch öffentlich und wertfrei zu diskutieren. Aber nur so können wir Angebote schaffen, die hinterher auch für die Menschen greifen, für die sie gedacht sind.
So unterschiedlich, so individuell wie es Familien gibt, so vielfältig müssen in Zukunft auch die Angebote im Pflegebereich und in der Sterbebegleitung sein. Das ist die einzige Verantwortung, die wir als Gesellschaft, als Sohn und als Tochter gegenüber unseren Eltern haben. Wie du dieser Verantwortung gerecht werden kannst, ist im Grunde ganz einfach: Finde eine Haltung und sprich darüber. Sprich mit deinen Eltern über Jimmy, sprich mit deinen Eltern über ihr Sterben.